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Fensterblick NRW
mit Kaan Cevahir / Interview / KSL entwickelt
Wibke Roth: Herr Cevahir, Sie arbeiten seit zwei Jahren in der Abteilung „Sport und Ehrenamt“ der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen. Können Sie kurz erklären, was eine Staatskanzlei ist und was sie macht?
Kaan Cevahir: Die Staatskanzlei ist die Behörde des Ministerpräsidenten und eine der obersten Landesbehörden in Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Düsseldorf. Zu den wichtigsten Aufgaben der Staatskanzlei zählen unter anderem die umfassende Unterrichtung und Vorbereitung von Entscheidungen für den Ministerpräsidenten sowie die Planung, Koordinierung, Steuerung und Kontrolle der Regierungsarbeit. Seit 2017 sind „Sport und Ehrenamt“ als eigenständiger Arbeitsbereich unter der Leitung von Staatssekretärin Andrea Milz direkt beim Ministerpräsidenten angesiedelt. Das Aufgabenprofil der Staatskanzlei hat sich seitdem um vielfältige und wichtige sportpolitische und sportfachliche Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche erweitert.
Wibke Roth: Und welche Aufgaben haben Sie persönlich in der Abteilung Sport und Ehrenamt?
Kaan Cevahir: Ich arbeite dort als Referent und stellvertretender Referatsleiter im Referat „Inklusion und Integration, Sport und Wissenschaft“. Zu den Aufgabenbereichen des Referats gehören weitere Arbeitsfelder, darunter beispielsweise Gewaltprävention und Prävention sexualisierter Gewalt, Extremismusphänomene und Antidiskriminierung im Sport sowie Gleichstellungsfragen im Sport. Ich bin für unterschiedliche Projektinitiativen und Programme des Landes und die Zusammenarbeit mit Stakeholdern und Partnern des Sports zuständig und vertrete das Referat in verschiedenen Gremien auf der Kommunal- und Landesebene. Aktuell stehen vor allem die Arbeiten zur Umsetzung der Projekte des neuen Landesaktionsplans „Sport und Inklusion“ (2024 bis 2027) mit unseren Partnern im Fokus der Aktivitäten.
Wibke Roth: Warum hat die Staatskanzlei einen Landesaktionsplan Sport und Inklusion erarbeitet? Wie kam es dazu, was ist das Ziel und was beinhaltet der Aktionsplan?
Kaan Cevahir: Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Dezember 2006 und deren Ratifizierung in Deutschland im März 2009 ging die Verpflichtung einher, Inklusion im Sinne einer gleichberechtigten und selbstbestimmten gesellschaftlichen Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen zu ermöglichen – so auch im Sport in all seinen Erscheinungsformen und Angebotsformaten. Die Landesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, gemeinsam mit Stakeholdern und Partnern von 2019 bis 2022 einen Aktionsplan „Sport und Inklusion“ zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund ist der seinerzeitige, erste Landesaktionsplan entstanden, der insgesamt 44 Projekte beinhaltete und einen wichtigen Beitrag für eine inklusivere Sportlandschaft in Nordrhein-Westfalen leisten sollte. Den Projekten übergeordnet waren sechs verschiedene Handlungsfelder, in denen Sport und Inklusion als Querschnittsthema unter besonderer Berücksichtigung handlungsfeldspezifischer Aspekte behandelt wurde. Zu diesen Handlungsfeldern gehörten die Sportvereinsentwicklung, Qualifizierung, Kooperation und Vernetzung, Sportarten, Zugänglichkeit sowie Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Alle Handlungsfelder und die diesen zugeordneten Projekte wurden gemeinsam mit Expert*innen aus den Sportvereinen und -verbänden sowie der Wissenschaft und den Betroffenen festgelegt und abgestimmt. Auf der Grundlage der erfolgreichen Umsetzung des ersten Landesaktionsplans hat das Land entschieden, einen weiteren Landesaktionsplan Sport und Inklusion zu konzipieren. (Anm. d. Red.: s. dazu auch Frage 8)
Wibke Roth: Sie haben sich im Vorfeld der Publikationen mit vielen beteiligten Akteur*innen darauf verständigt, was die Staatskanzlei unter einem inklusiven Sportangebot versteht. Was verstehen Sie darunter?
Kaan Cevahir: Der Landesaktionsplan war von Beginn an hoch partizipativ angelegt. Wir haben im gesamten Planungs- und Umsetzungsprozess die Expertisen, Erfahrungen und Perspektiven von Sportvereinen, Sportverbänden, Betroffenen und der Sportwissenschaft berücksichtigt. Dieser Ansatz beleuchtet den Kern unserer Auffassung von Inklusion, nämlich die selbstbestimmte Teilnahme und gleichberechtigte Teilhabe bei der Entwicklung und Nutzung „passender“ und möglichst wohnortnaher Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote. Dabei gilt es, einzelne Aspekte und Kriterien besonders stark zu gewichten, um Barrieren und Herausforderungen für Menschen mit besonderem Förderbedarf aufzulösen, zumindest zu minimieren. Inklusive Sportangebote dürfen jedoch nicht zu einem exklusiven Format für eine bestimmte Zielgruppe verkommen. Sie müssen im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Lage sein, Menschen unabhängig ihrer Individualitäten zusammenzuführen, sie müssen allgemein zugänglich sein. Unsere gemeinsame Vision ist, dass Inklusion zunehmend entphänomenalisiert wird und sich als gesamtgesellschaftliche Normalität etabliert – im Denken und in der Sportpraxis.
Wibke Roth: Was hat die Praxis von den angesprochenen neun Produkten des Landesaktionsplanes? Was sind die wichtigsten Wege und Maßnahmen, die Vereine nutzen und anwenden können, um inklusiv und barrierearm zu arbeiten?
Kaan Cevahir: Alle neun Produkte, die aus der Umsetzung des ersten Landesaktionsplans in der Zeit von 2019 bis Ende 2022 entstanden sind, weisen in unterschiedlichen Ausprägungen Praxisbezüge auf. Von der Vorstellung von Best Practice-Beispielen, über eine Checkliste für Zugänglichkeit bis hin zu haftungsrelevanten Fragen und inklusiven Kommunikationsstrategien, bilden alle Produkte eine wichtige Informationsgrundlage und verstehen sich zugleich als Handreichung für Vereine und weitere Interessierte, die das Thema Sport und Inklusion weiter vorantreiben möchten. Welcher Weg und welche Maßnahmen für Sportvereine besonders wichtig sind, lässt sich pauschal nicht beantworten, da die Ausgangssituationen, Rahmenbedingungen und der Nutzungsbedarf bei den Vereinen sehr unterschiedlich sind und voneinander abweichen können. Bei der Produkterstellung ging es uns gemeinsam mit den Partnern primär darum, praxisnahe und anwendungsorientierte Informationen und Unterstützungshilfen für die Vereine zur Verfügung zu stellen. Auf dieser Informationsgrundlage können die Vereine ihre Ideen und Vorstellungen konkretisieren. Inklusion im Sportverein beschränkt sich – so wichtig sie auch sind – nicht bloß auf vereinzelte inklusive Sportangebote, sondern wirkt idealerweise in sämtlichen Aufgabenbereichen des Vereins. Dazu zählen die Gewährleistung der Zugänglichkeit der Sportstätte genauso wie die Öffentlichkeitsarbeit des Vereines, um hier exemplarisch zwei weitere Handlungskontexte zu nennen. Angesichts dieser Komplexität ist es umso wichtiger, dass die Vereine sich über bereits bestehende ideelle wie auch finanzielle Unterstützungsangebote informieren, sich frühzeitig vernetzen und keinen Alleingang riskieren.
Wibke Roth: Wann erscheinen die Broschüren und wo verbreiten sie diese Materialien?
Kaan Cevahir: Die Produkte, die unter besonderer Berücksichtigung barrierearmer Aspekte erstellt worden sind, sind im April 2024 erschienen. Sie stehen in geringer Stückzahl in Printversion zur Verfügung und werden vor allem digital auf der Sportland.NRW-Webseite zum kostenfreien Download zur Verfügung gestellt. Auf dieser Website hinterlegt sind auch die komplementären DGS-Videos zu den jeweiligen Produkten. Beworben werden die Produkte hauptsächlich online, da das Format der barrierefreien PDF gegenüber einer Printfassung weitere Vorteile bietet. Durch die digitale Bereitstellung der Produkte können diese schnell und niedrigschwellig in weiten Kreisen über die dort bekannten digitalen Kanäle verbreitet werden. Insofern sind die Produkte nicht an eine bestimmte Leserschaft adressiert, sondern stehen öffentlich zugänglich allen Interessierten zur Verfügung, die sich mit dem Thema Sport und Inklusion bereits befassen oder sich neu damit auseinandersetzen wollen.
Wibke Roth: Bei der Gestaltung dieser Produkte wurden Sie von der LAG SELBSTHILFE NRW und der Koordinierungsstelle der Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben unterstützt. Warum? Und: Wie bewerten Sie diese Zusammenarbeit?
Kaan Cevahir: Die Koordinierungsstelle der Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben verfügt über ein fundiertes Wissen und langjährige Erfahrung in dem Bereich. Sie ist der Sport- und Inklusions-Szene als zuverlässiger Kooperationspartner bekannt. Die sehr angenehme Zusammenarbeit verlief konstruktiv, unkompliziert und auf Augenhöhe. Darüber hinaus haben beide Seiten im konkreten Umsetzungsprozess zur Produkterstellung und für eine zukünftige Zusammenarbeit viel voneinander gelernt. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit zeigt sich an der hohen Qualität der Produkte, die vor allem mit Blick auf die barrierefreie und digitale Bereitstellung neue Standards in der Entwicklung inklusiver Informationsformate im Bereich Sport gesetzt haben dürfte.
Wibke Roth: Wie geht es danach weiter?
Kaan Cevahir: Mit dem Landesaktionsplan von 2019 bis 2022 wurden die Weichen gestellt für mehr Inklusion und Sport in Nordrhein-Westfalen. Auf diesem Gleis fahren wir nun weiter und entwickeln seit 2023 – analog und auf Grundlage der sehr guten Erfahrungen mit der Konzipierung des ersten Landesaktionsplans – erneut gemeinsam mit den Vertretungen aus den Sportvereinen und Sportverbänden, der Wissenschaft und der Betroffenenebene einen neuen Landesaktionsplan für den Zeitraum von 2024 bis 2027. Dabei profitieren wir von den Ergebnissen und dem Erfahrungsschatz aus der Umsetzung des ersten Landesaktionsplans. Wir haben mit unseren Partnern auf der Grundlage der Auswertungsergebnisse des ersten Landesaktionsplans handlungsbedarfsorientiert weitere Themenschwerpunkte identifiziert, die in dem Zusammenhang eine besondere Aufmerksamkeit verdienen und entsprechend berücksichtigt werden. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit den Stakeholdern und Partnern, damit wir gemeinsam die inklusive Sportlandschaft in Nordrhein-Westfalen zielgerichtet weiter auf- und ausbauen können.
Wibke Roth: Vielen Dank für das Interview, Herr Cevahir.
Kaan Cevahir: Gern geschehen.
Mai 2024