In den vergangenen Monaten sind einige Gerichtsentscheidungen zum Persönlichen Budget beziehungsweise zum Arbeitgebermodell ergangen, die günstig für Menschen mit Behinderungen sind. Hier eine Auswahl unseres Rechstexperten Manuel Salomon.
Bundessozialgericht zu Befristung und Zielvereinbarung
Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich unter anderem geäußert zur Bedeutung einer Zielvereinbarung für die tatsächlich zustehende Geldleistung (BSG, Entscheidung vom 28.01.2021, B 8 SO 9/19 R, der Volltext lag zum Zeitpunkt dieses Beitrags am 11.06.2021 noch nicht vor. Den Terminbericht finden Sie hier).
Das Bundessozialgericht hält danach offenbar die in der Zielvereinbarung genannte Summe des Persönlichen Budgets nicht für entscheidend, um auf die notwendige Höhe des Persönlichen Budgets zu schließen. Somit könnte im gerichtlichen Verfahren auch eine höhere Summe verlangt bzw. zugesprochen werden, als sie in der Zielvereinbarung genannt ist. Oder in den Worten des Terminberichts:
„Die Zielvereinbarung bindet die Beteiligten nicht materiell im Hinblick auf den individuellen Leistungsbedarf, der dem persönlichen Budget wegen der notwendigen Ausgestaltung und der Höhe zugrunde liegt.”
(am Ende des Terminberichts).
Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass das BSG auf Grundlage der inzwischen außer Kraft getretenen Budgetverordnung zu entscheiden hatte. Mittlerweile ist die Budgethöhe eine ausdrückliche Minimal-Voraussetzung für eine Zielvereinbarung (vgl. §29 Abs. 4 Nr. 4 SGB IX).
Was dies für die Bedeutung der Zielvereinbarung heißt, wird hoffentlich der Volltext der Entscheidung zeigen.
Außerdem dürfe der Verwaltungsakt über das Persönliches Budget nicht befristet werden. Die Vorinstanz habe insoweit eine Rechtsnorm falsch ausgelegt. Eine nähere Begründung dürfte dem Volltext zu entnehmen sein.
Sozialgericht Dresden zu angemessenen Stundensätzen im Arbeitgebermodell
Das Sozialgericht Dresden hat einen Kostenträger verpflichtet, einer Budgetnehmerin vorläufig ein höheres Persönliches Budget als zunächst zu bewilligen (Sozialgericht Dresden, Beschluss vom 29.04.2021, S 42 SO 82/21 ER).
Der Beschluss enthält einige über die Einzelsituation hinaus interessante Ausführungen des Gerichts:
- Die im Arbeitgebermodell beschäftigten Pflegekräfte müssen über keine fachliche Ausbildung verfügen. Aus der Gestaltungshoheit [hier: der Antragstellerin] als Arbeitgeberin und der besonderen gesetzlichen Privilegierung des Arbeitgebermodells folgt, dass eine Einarbeitung der Pflegekräfte genügt. Die Anforderungen der §§75ff. SGB XII [Qualitätsmaßstäbe für Dienste] gelten insoweit nicht. Dabei verweist das Gericht u.a. auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichtes von 2013.
(vgl. Seite 9 des Beschlusses) - „Die Angemessenheit der Kosten i.S. von § 64f Abs. 3 SGB XII orientiert sich an der ortsüblichen Entlohnung der jeweiligen Pflegekraft im Verhältnis zum zeitlichen Umfang ihrer Pflegetätigkeit [Es folgen weitere Nachweise].”
(Seite 10 des Beschlusses) - Eine „angemessene“ Entlohnung lässt sich weder aus Tarifverträgen für Pflegekräfte im öffentlichen Dienst ermitteln noch aus einem Vergleich mit Vergütungen von bei privaten Pflegediensten angestellten Pflegekräften.
(vgl. Seite 10 des Beschlusses) - Entlohnungen, die in im Internet zugänglichen Stellenangeboten genannt sind, sind ebenfalls keine geeignete Vergleichsgrundlage.
(vgl. Seite 11 des Beschlusses) - Es wären laut Gericht Vergleiche zu anderen ebenfalls im Arbeitgebermodell beschäftigten Pflegepersonen heranzuziehen gewesen.
(vgl. Seite 10 des Beschlusses) - Das Gericht hat im einstweiligen Rechtsschutz darauf verzichtet, einen angemessenen Wert zu ermitteln. Stattdessen hat es den von der Antragstellerin kalkulierten Stundensatz von 17,00 EUR Arbeitnehmerbrutto für plausibel gehalten. Dazu hat es diesen Stundensatz mit “gerichtsbekannten” Vergütungssätzen von Pflegediensten in Dresden in Beziehung gesetzt.
(vgl. Seite 11 des Beschlusses) - “[E]s besteht derzeit grundsätzlich die Schwierigkeit, auf dem Arbeitsmarkt überhaupt geeignete Pflegekräfte zu finden; zudem ist die Suche nach geeigneten Pflegekräften zeitintensiv und längere Suchzeiten sind bekannt. Die Antragstellerin kann aber zur Erfüllung ihres unmittelbar und dauerhaft bestehenden Anspruchs auf eine selbstbestimmte Lebensführung nicht auf eine längere Suche verwiesen werden, weil sie während der Suchzeit nicht versorgt wäre.”
(Seite 12 des Beschlusses)
Anmerkungen des KSL Arnsberg
"Wir begrüßen den ausdrücklichen Verweis auf die Gestaltungshoheit von Menschen mit Behinderungen, die Pflegekräfte im Arbeitgebermodell beschäftigen. Es entspricht dem Wesen sowohl von Arbeitgebermodell als auch von Persönlichem Budget, die Qualitätsmaßstäbe durch den Menschen mit Behinderung definieren zu lassen.
Es ist erfreulich, wie deutlich das Gericht die praktischen Schwierigkeiten betont, Pflegekräfte zu bekommen. Folgerichtig lehnt es dann auch Vergütungssätze aus bloßen Stellenangeboten als Vergleichsmaßstab für eine angemessene Entlohnung ab. Schließlich spricht gerade das Stellenangebot dafür, dass zu den angebotenen Bedingungen bislang keine Pflegekraft eingestellt werden konnte.
Wegen der herausragenden Bedeutung einer selbstbestimmten Lebensführung hat das Gericht der dortigen Antragstellerin dann auch „längere Suchzeiten“ nicht zumuten wollen. Die Möglichkeit, ihre Pflegekräfte weiter an sich zu binden, hatte „somit deutlich Vorrang“ vor fiskalischen Interessen des Kostenträgers (vgl. Seite 11/12 des Beschlusses).
Zu hinterfragen ist, ob Vergütungen von Pflegekräften im öffentlichen Dienst oder der Privatwirtschaft tatsächlich keinen geeigneten Vergleichsmaßstab bilden. Der vom Gericht benannte Vergleich mit anderen Pflegekräften in Arbeitgebermodellen wäre geeignet, wenn bzw. sobald Menschen mit Behinderungen tatsächlich Gestaltungsmacht hätten bzw. haben, über Entlohnung zu verhandeln.
Aktuell liegt darin u.E. die Gefahr, gerade das bislang oft durch (zu) niedrige Vorgaben von Kostenträgern geprägte Lohniveau zum Maßstab zu machen.
Dann doch lieber der Vergleich mit anderweitig tätigen Pflegekräften."
Sozialgericht Gießen zum vorläufigen Rechtsschutz auch ohne Zielvereinbarung
„Ich werde mir mit meinem Kostenträger über die Höhe meines Budgets nicht einig. Soll ich trotzdem die mir vorgelegte Zielvereinbarung unterschreiben? Ich habe gehört, eine Zielvereinbarung sei unbedingt nötig für ein Persönliches Budget.“
Laut dem Sozialgericht Gießen ist jedenfalls die vorläufige Bewilligung eines Persönlichen Budgets im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch ohne Zielvereinbarung möglich. Andernfalls hätte es der Kostenträger einseitig in der Hand, den Anspruch auf ein Persönliches Budget ins Leere laufen zu lassen. Die Beteiligten seien regelmäßig [beide! KSL Arnsberg] verpflichtet, eine Zielvereinbarung abzuschließen, wenn die beantragten Leistungen budgetfähig sind und ein Persönliches Budget beantragt wurde. Das Gesetz gewähre Budgetnehmenden einen Vertrauensvorschuss. So werde zunächst angenommen, dass die Budgetnehmenden ihre vertraglichen Verpflichtungen erfüllten. Erst, wenn dies nicht der Fall sei, könne der Kostenträger die Vereinbarung kündigen.
Zur Höhe des Persönlichen Budgets hat sich das Gericht einen Kostenrahmen von 17.000 EUR bis 20.000 EUR monatlich für eine 24-Stunden Assistenz für angemessen gehalten (nur Lohnkosten! Verwaltungs- und sonstige Kosten seien extra zu kalkulieren!). Dabei hat es sich an Angaben der Gewerkschaft ver.di orientiert. (SG Gießen, Beschluss vom 29.10.2020, S 18 SO 146/20 ER)
Anmerkung des KSL Arnsberg
"Die Entscheidung ist unter zwei Gesichtspunkten pragmatisch.
Erstens ermöglicht sie eine vorläufige Lösung auch dann, wenn noch keine Zielvereinbarung zustande gekommen ist. Allein dies stärkt die Position potenzieller Budgetnehmenden gegenüber den Kostenträgern.
Zweitens bietet die vom SG Gießen genannte Größenordnung von 17.000 EUR bis 20.000 EUR die Möglichkeit, zügig die laufende Unterstützung sicherzustellen. Unabhängig davon ist eine detaillierte Kalkulation schon im Antragsverfahren weiterhin zu empfehlen.
Kontakt zum Autor:
Manuel Salomon, E-Mail manuel.salomon@ksl-arnsberg.de